Mitverschulden der Radfahrer: Sturz über quer zum Radweg liegendes gut erkennbares Erdkabel

Radfahrer können sich nicht darauf verlassen, dass jegliche Hindernisse für sie beseitigt werden oder alle Gefahren ausgeräumt werden. Für alle Radfahrer gilt zudem das Sichtfahrgebot. Der Klägerin sei daher vorzuwerfen, dass sie trotz dessen, dass das Kabel weder schwer erkennbar noch überraschend war, mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhr. Das geht aus einem Urteil des Oberlandesgericht Hamm vom Juni 2021 hervor.

In aller Konsequenz bedeutet es dann auch, wenn ein Radfahrer über ein gut erkennbares quer zum Radweg liegendes Erdkabel stürzt, dieses ein Mitverschulden von 50 Prozent begründet.

Was genau führte zu diesem Urteil des OLG Hamm? 2018 stürzte eine Radfahrerin über ein quer zum Radweg liegendes 4 cm dickes Erdkabel. Das Kabel wurde unter Einsatz eines Baggers aus dem Boden gezogen. Befand sich das Kabel zunächst einige Meter am Rad des Radwegs, so lag es später 20 m quer über den Rad- und Gehweg. Eine Warnung durch einen Mitarbeiter oder ein Hinweisschild gab es nicht. Für alle Radfahrer gilt das Sichtfahrgebot.

Aufgrund der durch den Sturz erlittenen Verletzungen klagte die Radfahrerin auf Zahlung von Schmerzensgeld. Die Radfahrerin erlitt einen handgelenksnahen Speichenbruch, Prellungen an beiden Knie sowie trotz getragenen Helms Prellungen am Kopf und der Halswirbelsäule. Durch die Verletzungen verblieb eine posttraumatische Arthrose am linken Handgelenk. Zudem hatte sie anschließend beim Bewältigen längerer Strecken zu Fuß Probleme.

Das zuvor angerufene Landgericht Essen sprach der Klägerin unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 50 Prozent ein Schmerzensgeld von 3.000 Euro zu. Gegen diese Entscheidung legte die Radfahrerin Berufung ein. Sie wollte ein höheres Schmerzensgeld. Das Oberlandesgericht bestätigte jedoch die Entscheidung des Landgerichts. Der Klägerin stehe kein höheres Schmerzensgeld zu, der Betrag sei angemessen.

Das beklagte Bauunternehmen hafte wegen des Unfalls ebenfalls zu 50 Prozent, denn dessen Mitarbeiter hätten die Sicherstellung des seitlichen Kabelverlaufs oder zumindest eine Warnung herannahender Radfahrer pflichtwidrig unterlassen. Sie hätten nicht darauf vertrauen dürfen, dass Radfahrer jegliche von dem losen und daher potenziell rollenden Kabel ausgehende Gefahren selbst rechtzeitig begegnen können. So sei letztlich die  50:50-Haftung angemessen.

Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 25.6.2021; AZ – 7 U 89/20 –

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Rundfunkbeiträge für Fahrzeuge des Mitarbeiter-Leasings sind ohne Prüfung zulässig

Mit einem Urteil vom Juli 2022 hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Braunschweig zurückgewiesen, mit der dieses die Klage gegen einen Bescheid abgewiesen hatte, mit dem Rundfunkbeiträge für Fahrzeuge des Mitarbeiter-Leasings eines Kraftfahrzeugherstellers festgesetzt wurden.

Nach dem Rundfunkbeitragsstaatsvertrag sei bei beitragspflichtigen gewerblich genutzten Kraftfahrzeugen derjenige Beitragsschuldner, auf den das Fahrzeug zugelassen sei, so die niedersächsischen Richter. Hier läge  klar eine gewerbliche Nutzung der Fahrzeuge vor, da der klagende KFZ-Hersteller eine Pauschale für die Verwaltung der Leasingfahrzeuge erhalte, vor allem aber die Leasingmöglichkeit als Anreiz für seine Mitarbeiter nutze und so einen Werbeeffekt für sich erziele.

Das ist der Hintergrund: Der Hersteller stellt seinen Mitarbeitern regelmäßig von ihm produzierte Fahrzeuge per Leasing zur privaten Nutzung zur Verfügung. Dabei werden die Fahrzeuge auf den KFZ-Hersteller zugelassen, Leasinggeberin und Eigentümerin ist aber ein selbständiges Tochterunternehmen. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) erließ einen Festsetzungsbescheid, mit dem er Rundfunkbeiträge für diese Leasingfahrzeuge forderte.

Rundfunkbeiträge für Fahrzeuge des Mitarbeiter-Leasings sind ohne Prüfung zulässig

Der Kraftfahrzeughersteller wehrte sich gegen die Beitragsfestsetzung, weil er der Ansicht war, dass Rundfunkbeiträge im Rahmen seines Leasing-Modells nicht anfallen würden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Beitragserhebung nur gerechtfertigt, wenn ein unternehmensspezifischer Vorteil aufgrund der Rundfunkempfangsmöglichkeit bestehe – der allerdings hier nicht gegeben sei, so die Argumentation.

Eine Prüfung zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung aufgrund eines unternehmensspezifischen Vorteils sei hier jedoch nicht notwendig, erkannte das Oberverwaltungsgericht. Aufgrund der gewerblichen Nutzung der Fahrzeuge könne die Festsetzung des Rundfunkbeitrags auch erfolgen, ohne dass eigens geprüft werde, ob im Einzelfall der geforderte Vorteil aufgrund einer Rundfunkempfangsmöglichkeit bestehe.

Ein solcher Vorteil rechtfertige zwar die grundsätzliche Regelung über die Beitragspflicht für gewerblich genutzte Kraftfahrzeuge im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag. Mit der dortigen Regelung für Rundfunkbeiträge gehe jedoch eine zulässige Typisierung einher, so dass es ausreichend sei, wenn die Voraussetzungen der Vorschrift bejaht werden, ohne dass in jedem Einzelfall eine Prüfung dazu kommen müsse.

Eine Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat der Senat nicht zugelassen.

Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom 7.7.2022; AZ – 8 LB 2/22 –

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Staubsaugen zu Mittagszeit ist von den Nachbarn hinzunehmen

Ein Wohnungsmieter hat sozialadäquaten Lärm, wie etwa Staubsaugen eines Nachbarn zur Mittagszeit hinzunehmen. Es besteht keine Pflicht zur Vermeidung jedes störenden Geräusches. Dies hat das Amtsgericht Singen im April 2022 entschieden.

Die Mieterin einer Erdgeschosswohnung klagte im Jahr 2021 gegen die über ihr wohnende Nachbarin auf Unterlassung von Lärmstörungen. Sie beschwerte sich darüber, dass kurz nach 7 Uhr mit Fenstern und Türen geknallt und hin und her getrampelt werde. Auch staubsauge die Nachbarin jeden Tag gegen 12 Uhr. Die Wohnung befand sich in einem sehr hellhörigen Mehrfamilienhaus, ohne Trittschalldämmung.

Von der Beklagten könne nicht erwartet werden, so das Amtsgericht, dass sie nach Ende der Nachtruhe sich ganz zaghaft und behutsam schleichend zu verhalten sowie zaghaft darauf zu achten, keinen Laut von sich zu geben und mucksmäuschenstill zu sein. Auch eine Hausordnung könne nicht vorgeben, dass „jedes störende Geräusch“ zu vermeiden sei. Es gebe nun mal Alltagstätigkeiten, die naturgesetzlich mit Geräuschentwicklungen verbunden seien.

Staubsaugen ist ein sozialadäquates VerhaltenDer Klägerin stehe kein Anspruch auf Unterlassung jeglicher Ruhestörung zu, so das Singener Amtsgericht. Die von ihr genannten Belästigungen seien als Bagatelle zu werten. Der Beklagten sei es erlaubt, im Rahmen eines sozialadäquaten Verhaltens in der von ihr bewohnten Wohnung Geräusche zu verursachen – auch wenn diese von anderen Hausbewohnern als ruhestörend empfunden werden. Ein Wohnungsmieter dürfe selbstverständlich mittags staubsaugen. Zwar komme es beim Schließen von Fenstern und Türen zu punktuellen Geräuschentwicklungen. Diese gehören aber ebenso zum Alltagsleben und seien hinzunehmen.

Grundsätzlich steht bei diesem Urteil – wie auch immer wieder im Mietrecht – die Frage im Raum „Was ist noch sozialadäquat (und damit zu dulden) und ab wann überschreitet die Geräuschkulisse das sozialadäquate Maß (und ist damit nicht mehr zu dulden)?“ Mittägliche Ruhezeiten, wie sie von Mietern immer noch wieder gerne diskutiert und beansprucht werden, sind aber in den meisten Bundesländern bereits seit vielen Jahren, bzw. Jahrzehnten abgeschafft. Und damit für diese Entscheidung im Grunde nicht relevant.

Die Kategorie des sozialadäquaten Lärms ist tatsächlich rechtlich schwierig einzuordnen. Es gibt keine direkt anwendbaren technischen Grenzwerte und in rechtlicher Hinsicht ist ein erheblicher Bewertungsspielraum vorhanden. Viele Streitigkeiten vor Gericht drehen sich deshalb immer mal wieder um diese Frage. Das Urteil der Richter aus Singen ist dazu aber in jeder Hinsicht sehr eindeutig.

Amtsgericht Singen, Urteil vom 29.4.2022; AZ – 1 C 235/21 –

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Reisebüro hat Anspruch auf Gebühren nach Zimmerstornierung durch Reisende wegen Corona

Fast schon eine Alltäglichkeit in diesen Jahren der Pandemie – Touristen können oder dürfen nicht reisen und übernachten. Die Gründe sind oft vielfältig: Krankheit, staatliche Vorschriften (besonders bei grenzüberschreitenden Fahrten ins Ausland) usw. Die vertraglich vereinbarte Stornierungsgebühr müssen Reisende auch dann an ein Reisebüro zahlen, wenn sie eine Hotelbuchung wegen der Corona-Pandemie stornieren. Das gilt im übrigen auch für weitere Service-Gebühren eines Reisebüros in diesem Zusammenhang. Dies hat das Landgericht Heidelberg im Mai 2022 entschieden.

So war es zu der Verhandlung gekommen: Wegen eines geplanten Kongresses in Leipzig im März 2020 ließ eine Firma über ein Reisebüro für zwei ihrer Mitarbeiter jeweils ein Hotelzimmer buchen. Nachdem der Kongress wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, stornierte die Firma die Hotelbuchung. Nach den Stornierungsbedingungen des Hotels fielen dadurch Stornierungsgebühren von 90 Prozent des Reisepreises an. Reisebüro hat Anspruch auf Gebühren nach Zimmerstornierung wegen CoronaDas Reisebüro konnte die Gebühr auf 50 Prozent senken und verauslagte diese sogar. Daraufhin beanspruchte das Reisebüro von der Firma die Erstattung der Stornierungsgebühr. Zudem verlangte es die Zahlung der Servicegebühr für die Hotelbuchung. Beides waren konkrete Kosten, die vertraglich im Grunde unstrittig waren. Da sich die Firma weigerte dem nachzukommen, erhob die Betreiberin des Reisebüros Klage.

Das Landgericht Heidelberg entschied letztlich zu Gunsten der Klägerin. Ihr stehe zunächst der Anspruch auf Zahlung der Servicegebühr für die Hotelbuchung zu. Die Klägerin habe schließlich ihre Leistungspflicht erfüllt. Die Stornierung durch die Beklagten lasse den bereits entstandenen Vergütungsanspruch erkennbar unberührt. Es komme denn auch weder eine nachträgliche Kürzung noch ein Wegfall des Anspruchs einseitig zu Lasten der Klägerin in Betracht.

Zudem bestehe nach Auffassung des Landgerichts ein Anspruch auf Erstattung der Stornierungsgebühr, die ja konkret verauslagt wurde. Die Stornierungsvereinbarung sei – jedenfalls im unternehmerischen Rechtsverkehr – eindeutig. Dass im Nachhinein ein behördliches Beherbergungsverbot ausgesprochen wurde, ändere nichts an den Anspruch. Auch eine Kürzung komme nicht in Betracht, da die Stornierungskosten schon zur Hälfte herabgesetzt wurden.

Landgericht Heidelberg, Urteil vom 19.5.2022; AZ – 8 S 4/21 –

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Werbe-E-Mail ohne Zustimmung kann zu Ordnungsgeld oder -haft führen

Der Kläger betrieb eine E-Mail-Adresse, die er unter anderem für berufliche Zwecke nutzte. Im Dezember 2021 widersprach er der werblichen Nutzung seiner personenbezogenen Daten, indem er eine E-Mail an die Beklagte (ein Pay-TV-Anbieter) sandte. Trotzdem erhielt er im Januar 2022 erneut eine Werbe-E-Mail, mit der diese für den Abschluss eines 12-monatigen Abos warb. Der Kläger forderte die Beklagte zunächst außergerichtlich zur Unterlassung auf. Nachdem keine Reaktion erfolgte, hatte er Klage erhoben.

Mit einem Urteil vom August 2022 untersagte das Amtsgericht München dem Pay-TV Anbieter, im geschäftlichen Verkehr zu Werbezwecken mit dem Kläger per E-Mail Kontakt aufzunehmen, ohne dass dessen ausdrückliche Einwilligung vorliegt. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung wurde ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro angedroht, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten – zu vollziehen an dem oder den Geschäftsführer(n).

Werbe-E-Mails ohne Zustimmung können zu Ordnungsgeld oder -haft führenDer Kläger bezog sich auf die Datenschutzgrundverordnung, nach der er jederzeit und insbesondere formlos kündigen bzw. weitere Werbe-E-Mails untersagen könne. Die Beklagte trug vor, dem Kläger sei auf seine Nachricht vom Dezember mitgeteilt worden, dass er ganz einfach die entsprechende Einwilligung im Kundenverwaltungssystem entziehen könne. Da der Kläger dies nicht getan habe, habe sie davon ausgehen können, dass seine Einwilligung weiterhin Bestand habe. Dem widersprach das Amtsgericht deutlich und urteilte im Sinne des Klägers.

Die Verwendung von elektronischer Post für die Zwecke der Werbung gegen den eindeutig erklärten Willen des Klägers stelle einen Eingriff in seine geschützte Privatsphäre und damit in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht dar. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze den Bereich privater Lebensgestaltung und gäbe den Betroffenen das Recht, im privaten Bereich in Ruhe gelassen zu werden.

Nicht nachvollziehbar sei der Einwand der Beklagten, so das Amtsgericht, der Kläger habe in ihrem „Kundenverwaltungssystem“ darüber hinaus noch bestimmte Einstellungen selbst tätigen müssen. Der Widerspruch gegen die Zulässigkeit elektronischer Werbung sei an keine bestimmte Form gebunden; die Verwaltung ihrer Kundendaten obliege allein der Beklagten und könne nicht auf den Kunden abgewälzt werden. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers sei auch rechtswidrig. Die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr würde durch das eindeutig festgestellte rechtsverletzende Verhalten des beklagten Pay-TV-Anbieters angezeigt.

Amtsgericht München, Urteil vom 5.8.2022; AZ – 142 C 1633/22 –

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Unionsbürger haben unter Umständen auch ohne Einkünfte Anspruch auf Kindergeld

Bürger der Europäischen Union (EU), die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahme-Mitgliedstaat begründet haben, können nicht – nur weil sie keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat beziehen –während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden. Sofern sie sich rechtmäßig dort aufhalten, genießen sie grundsätzlich Gleichbehandlung mit inländischen Staatsangehörigen, so der EuGH in seinem Urteil vom August 2022.

Eine aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammende Unionsbürgerin klagt vor einem deutschen Gericht gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für ihre drei Kinder durch die Familienkasse Niedersachsen- Bremen für die ersten drei Monate nach Gründung ihres Aufenthalts in Deutschland. Die Familienkasse war der Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können: Sie habe in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen.

Mit diesem Erfordernis zielte der deutsche Gesetzgeber darauf ab, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, der möglicherweise zu einer unangemessenen Inanspruchnahme der hiesigen sozialen Sozialsysteme führen könnte. Dieses Erfordernis gilt dagegen nicht für deutsche Staatsangehörige, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren. Das deutsche Gericht hatte dem europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar sei.EU-Bürger haben ein Recht auf Kindergeld, auch ohne Einkünfte

Der EuGH hat entschieden, dass jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei dieser lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen hat. Allerdings auch nur, solange die Neubürger, samt Familienangehörigen, die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall ist ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig. Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer.

Der Aufnahme-Mitgliedstaat kann zwar gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts Sozialhilfeleistungen verweigern. Kindergeld stelle aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit der Empfänger gewährt und dient nicht der Sicherstellung des Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Voraussetzung ist aber eben ein gewöhnlicher Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat.

Entscheidend ist, dass die (neuen) Unionsbürger während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahme-Mitgliedstaat haben. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genügt insoweit nicht. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts zurück in den Aufnahme-Mitgliedstaat impliziere nämlich, dass die betreffenden Personen den Willen zum Ausdruck gebracht haben, tatsächlich dort den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten. Die Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats muss also hinreichend dauerhaft ist, um sie klar von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.

Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union  vom 1.8.2022; AZ – C-411/20 –

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Kein Wegfall von Kindergeld weil ein Termin bei der Agentur für Arbeit versäumt wurde

Ein Vater und Kläger im vorliegenden Fall erhielt für seine Tochter Kindergeld. Diese hatte zunächst eine Ausbildung zur Altenpflegerin aufgenommen, doch musste sie nach kurzer Zeit wegen einer problematischen Schwangerschaft kündigen. Ordnungsgemäß meldete sich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend. Leistungen seitens der Agentur waren damit nicht verbunden.

Einige Monate später meldete die Agentur für Arbeit die Tochter aus der Arbeitsvermittlung ab, weil sie ohne Angabe von Gründen nicht zu einem Termin erschienen und daher nicht verfügbar gewesen sei. Die Einstellung der Arbeitsvermittlung wurde der Tochter des Klägers, die zu diesem Zeitpunkt wie erwähnt keine Leistungen von der Arbeitsagentur erhielt, nicht bekanntgegeben.

Wegfall von KindergeldDie Familienkasse zahlte darauf auch kein Kindergeld an den Vater, da die Tochter die Berufsausbildung abgebrochen habe und bei der Arbeitsvermittlung nicht beziehungsweise nicht mehr als arbeitsuchendes Kind geführt wurde. Ein Einspruch des Vater war erfolglos, worauf es zur Klage kam.

Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz folgte diesem Vorgehen nicht. Mit ihrem Urteil vom Mai 2022 erkannte sie, dass ein als arbeitsuchend gemeldetes Kind, das keine Leistungen von der Agentur für Arbeit bezieht und lediglich seiner allgemeinen Meldepflicht nicht nachkommt, keine Pflichtverletzung begeht, die dann zum Wegfall des Kindergeldes führt.

Das Finanzgericht hat der Klage für sechs Monate stattgegeben. Für diese Monate habe der Kläger einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter als arbeitsuchend gemeldetes Kind. Die Tochter sei zwar durch die Agentur für Arbeit aus der Arbeitsvermittlung abgemeldet worden, die Einstellung der Arbeitsvermittlung sei der Tochter des Klägers allerdings nicht bekanntgegeben worden. In den Folgemonaten bestand kein weiterer Anspruch, da die Tochter dann 21 Jahre alt wurde und für Kindergeld nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

Bei einem Arbeitssuchenden, der – wie die Tochter des Klägers – keine Leistungen beziehe, dürfe die Agentur für Arbeit die Vermittlung erst dann einstellen, wenn die in einem förmlichen Bescheid auferlegten Pflichten ohne wichtigen Grund nicht erfüllt worden seien. Eine solche Pflichtverletzung liege hier jedoch nicht vor, weil die Tochter des Klägers lediglich ihrer allgemeinen Meldepflicht nicht nachgekommen sei.

Urteil des Finanzgericht Rheinland-Pfalz vom 13. Juli 2022; AZ – 2 K 2067/20 –

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Mieter müssen die Kosten für die Anschaffung der Rauchmelder nicht übernehmen

Vermieter sind seit einigen Jahren dazu verpflichtet, Rauchmelder in ihren Immobilien zu installieren. Dass die Kosten für einen Kauf nicht als Betriebs- oder Nebenkosten geltend gemacht werden können, war bereits seit Längerem bekannt. Was allerdings bei einer Anmietung (als alternatives Modell der Vorsorge) der Rauchmelder gilt, war bisher nicht eindeutig definiert. Dies ändert sich nun mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Mai 2022. Anschaffungskosten für Rauchmelder über die Nebenkosten abzusetzen, ist grundsätzlich nicht zulässig.

Kosten für Anschaffung der RauchmelderDer BGH hat für Rauchmelder bezüglich der Nebenkosten allerdings nur festgehalten, dass die Anschaffungs- oder Mietkosten allein Sache der Vermieter sind. Ausgenommen sind hier die Wartungskosten für die Geräte, da diese gemäß der Betriebskostenverordnung zu den umlagefähigen Nebenkosten zählen.

Im zu verhandelnden Fall hatte der Eigentümer seinem langjährigen Mieter 2015 mitgeteilt, dass er das Gebäude mit Rauchwarnmeldern ausstatten werde. Die Nebenkostenabrechnung wies dann vom Folgejahr an die Position „Miete + Wartung Rauchmelder“ aus, für die jede Mietpartei anteilig aufkommen musste. Dagegen wehrte sich der Mieter und klagte. Denn „Miete“ bedeute auch, dass der „Kauf“ mit in diesem Betrag enthalten sei.

Betriebskosten sind immer Kosten, die regelmäßig anfallen. Kauft ein Vermieter die Rauchmelder, hat der Punkt also nichts in der Nebenkostenabrechnung zu suchen. Umstritten war bisher, was gilt, wenn die Geräte extern angemietet werden. Die Richter des BGH stellen nun klar, dass das keinen Unterschied machen kann – sonst wäre Vermietern der Weg eröffnet, „auf einfache Weise (…) die im Grundsatz ihm zugewiesene Belastung mit Anschaffungskosten zu umgehen“. Bei den Kosten für die Miete von Rauchwarnmeldern handelt es sich nicht um sonstige Betriebskosten, sondern – da sie den Kosten für den Erwerb von Rauchwarnmeldern gleichzusetzen sind – um betriebskostenrechtlich nicht umlagefähige Aufwendungen. Kurz: Hier werden zwei Dinge miteinander – zu Unrecht – vermengt.

Die Richter der BGH betonen in ihrer Urteilsbegründung daher noch einmal ganz deutlich, dass die Wartungskosten für die Geräte ausgenommen sind, da diese gemäß der Betriebskostenverordnung unbestreitbar zu den umlagefähigen Nebenkosten zählen.

Urteil der Bundesgerichtshof vom 11.5.2022; AZ – VIII ZR 379/20 –

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Urteil: Arbeitgeber darf Betriebsrat nicht abmahnen

In Deutschland haben Gewerkschaften und ihre Vertreter nach wie vor eine starke Rolle in der Arbeitnehmer-Vertretung – anders als in vielen anderen Ländern. In den meisten Betrieben steht dafür zunächst der Betriebsrat und dessen Vertreter. Sie haben durch ihre besondere Tätigkeit einen hohen Schutz, was auch immer wieder Unternehmern ein Dorn im Auge ist. Doch Gerichte neigen hierzulande eher dazu, die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, wie auch ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgericht Hessen vom November 2021 zeigt.

Der Arbeitgeber hatte vom Betriebsrat unter Androhung arbeitsrechtlicher Schritte verlangt, es zu unterlassen, ein (vom Arbeitgeber erstelltes) Formular mit der Funktion einer „Jahresurlaubsplanung“ zu verändern oder anzupassen. Obwohl Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit ganz klar nicht gestört oder behindert und auch nicht benachteiligt oder begünstigt werden dürfen, mahnte der Arbeitgeber den Betriebsrat in einer E-Mail ab.

Der Betriebsrat ist gesetzlich besonders geschützt!Der Arbeitgeber begründete das Ignorieren des Betriebsverfassungsgesetzes damit, dass interne Firmenunterlagen zu verändern und diese ungeprüft und ungefragt weiterzugeben, keine typische Tätigkeit sei und auch als Interna zu unterbinden. Das Schreiben endete denn auch mit dem Verweis, arbeitsrechtliche Schritte in Erwägung zu ziehen, sollte sich so ein Fall wiederholen. Was typischerweise eine Abmahnung wäre.

Eine „betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung wegen einer betriebsverfassungsrechtlichen Amtspflichtverletzung ist generell unzulässig“, lautete jedoch die etwas in sich gedreht wirkenden Begründung der hessischen Richter. Beides, Abmahnung und Amtspflichtverletzung liegen quasi auf der gleichen Ebene, daher auch dieser Wortlaut der Erklärung.

Abmahnung für ein Verhalten, das der Mitarbeiter aufgrund seiner Stellung im Betriebsrat tätigt, kommt daher nicht in Betracht. Jedoch bleibt davon natürlich die Möglichkeit der Abmahnung in seiner Stellung als normaler Arbeitnehmer (die er gleichzeitig innehat) vollkommen unberührt – so zum Beispiel, wenn er Pflichten aus seinem geltenden Arbeitsvertrag verletzt. Der Abmahnung kann er dann auch nicht die Mitgliedschaft im Betriebsrat entgegenhalten.

Die Möglichkeit, gegen eine Abmahnung durch den Arbeitgeber vorzugehen, steht übrigens nur dem abgemahnten Betriebsratsmitglied selbst offen. Ein entsprechendes Recht des Betriebsrats als Kollektiv existiert hingegen nicht.

Urteil des hessischen Landesarbeitsgerichts vom 29.11.2021; AZ – 16 TaBV 52/21–

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Bundesverfassungsgericht: Corona-bedingte Schließung der Gastronomie war rechtmäßig

Cafés, Kneipen und Restaurants – die gesamte Gastronomie – musste in den Hochphasen der Corona-Pandemie zeitweise geschlossen werden. Ein Jahr nach den Einschränkungen durch die sogenannte Bundes-Notbremse billigte das Bundesverfassungsgericht diese Maßnahme als rechtmäßig. Die Entscheidung kommt nicht überraschend, da die Karlsruher Richter zentrale Maßnahmen der Corona-Notbremse schon vor einigen Monaten als gerechtfertigt eingestuft haben. Dabei ging es um die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen und die vorübergehende Schließung von Schulen.

Gaststätten mussten schließen, sobald die vorgegebene Schwelle erreicht war (Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an mehreren Tagen über 100). Sie durften dann allerdings noch Essen und Getränke zum Mitnehmen verkaufen oder auf Bestellung ausliefern. Der Geschäftsführer der klagenden GmbH war der Ansicht, die Schließungen seien so nicht erforderlich gewesen. Verpflichtende Hygienekonzepte und Tests hätten vollkommen ausgereicht, die Gastronomie weiter zu betreiben.

Corona-bedingte Schließung der Gastronomie ist rechtmäßig

Die Entscheidung gegen dieses Argument fiel dann recht unmissverständlich aus: Die Verfassungsrichter betonen den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Damals habe eine „besondere Dringlichkeit“ bestanden, „zum Schutz der überragend bedeutsamen Rechtsgüter Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems tätig zu werden“. Die zentrale Begründung macht das noch einmal deutlich: „Der grundsätzliche Ansatz, den Schutz der Gemeinwohlbelange primär durch Maßnahmen der Kontaktbeschränkung an Kontaktorten zu erreichen – wozu auch die Schließung von Gaststätten zu zählen ist – ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“

In der Abwägung zwischen dem Eingriff in Grundrechte und eventuell entgegenstehenden Belangen habe der Gesetzgeber einen verfassungsgemäßen Ausgleich gefunden, so die Richter und erläutern: „Hier ist der Wirtschaftszweig der Gastronomie insgesamt stark belastet worden. Doch sorgten die Vorschrift und die sie begleitenden staatlichen Hilfsprogramme für einen hinreichenden Ausgleich zwischen den verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen.“ Durch die Befristung und die am jeweiligen örtlichen Geschehen ausgerichtete Differenzierung wurde die Belastung durch die angegriffene Regelung begrenzt und habe bewirkt, dass die Regelung faktisch in keinem Gebiet Deutschlands die Höchstdauer von zwei Monaten erreichte.

Die mittlerweile veränderte Lage mit der sogenannten Hotspot-Regel erlaubt zusätzliche Vorgaben, etwa wenn ein Landesparlament eine regional drohende kritische Lage für Kliniken feststellt. Unabhängig von staatlichen Regeln können Firmen, Geschäfte und andere Einrichtungen nach Hausrecht weiterhin Vorgaben wie Maskenpflichten beibehalten.

Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 10.5.2022; AZ – 1 BvR 1295/21 –

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