Fehlender Arbeitsantritt bei mangelnder Unterstützung durch Jobcenter ist kein sozialwidriges Verhalten

Ein im Januar 2023 ergangenes Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hat wichtige Auswirkungen auf die Interpretation von sogenanntem sozialwidrigem Verhalten im Kontext von Jobcenter-Leistungen. Der Fall drehte sich um einen Langzeitarbeitslosen, der eine Stelle in einer anderen Stadt nicht antreten konnte, weil das Jobcenter nicht die erforderliche Unterstützung bot. Ein Arbeitsantritt sei in der Tat nicht möglich.

Der betroffene Mann, Jahrgang 1962, stammt aus Osnabrück und war bis 2003 als Buchhalter tätig. Nach dieser Zeit folgten Phasen von Arbeitslosigkeit und diversen Hilfsarbeiten. Obwohl er sich viele Jahre erfolglos auf Stellen als Buchhalter beworben hatte, erhielt er 2019 unerwartet einen Arbeitsvertrag für eine entsprechende Stelle in Düsseldorf.

Ein Arbeitsantritt muss evtl. vom Job-Center unterstützt werden.Sein Arbeitsantritt scheiterte jedoch, da das Jobcenter die Übernahme der Mietkaution für seine neue Wohnung ablehnte, was einen notwendigen Umzug verhinderte. Im Jahr darauf forderte das Jobcenter die Rückzahlung von rund 6.800 Euro an Grundsicherungsleistungen, mit der Begründung, der Mann habe durch sein Ausbleiben vom Arbeitsantritt vorsätzlich ein Arbeitsverhältnis verhindert.

In seiner Verteidigung argumentierte der Mann, dass er nicht schuld an der Nichtannahme der Stelle war. Er konnte den Mietvertrag in Düsseldorf nicht unterschreiben, da er kein Geld für die Kaution hatte und noch nicht aus seinem alten Mietvertrag entlassen war.

Das Gericht stimmte der Argumentation des Mannes zu und entschied, dass das Nichtantreten einer Arbeitsstelle außerhalb des Tagespendelbereichs kein sozialwidriges Verhalten darstellt. Speziell, wenn der Arbeitsuchende am künftigen Beschäftigungsort keine Wohnung anmieten kann, weil ihm die Mittel für eine Mietkaution fehlen und das Jobcenter die Übernahme ablehnt.

Der Fall zeigt, dass bei der Beurteilung von sozialwidrigem Verhalten das Handeln und die Unterstützung durch das Jobcenter berücksichtigt werden müssen. In diesem speziellen Fall hat das Jobcenter den Mann „allein gelassen“ – ein vorwerfbares sozialwidriges Verhalten lag daher nicht vor.

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.1.2023; AZ – L 11 AS 336/21

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Keine Entschädigung für nicht-binäre Person aufgrund von Ungleichbehandlung bei der Stellenbesetzung

Das Landesarbeitsgericht (LAG) entschied mit seinem Urteil vom Februar 2023, dass bei einer Stellenausschreibung, die sich ausschließlich an Personen weiblichen Geschlechts richtet, kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot vorliegen muss. Die Hochschule, die eine Stelle als Gleichstellungsbeauftragte ausschrieb, berief sich auf das Niedersächsische Hochschulgesetz (NHG), welches vorschreibt, dass eine Frau dieses Amt besetzen soll. Eine Ungleichbehandlung bei der Stellenbesetzung wurde nicht festgestellt.

Der Kläger, der sich selbst als nicht-binär identifiziert, reichte seine Bewerbung ein, doch die Hochschule berücksichtigte ihn nicht für die Stellenbesetzung. Das Arbeitsgericht in Braunschweig lehnte seine Forderung nach Entschädigung ab. Sein Versuch, vor dem Landesarbeitsgericht Berufung einzulegen, scheiterte ebenfalls. Der Kläger wurde gegenüber weiblichen Bewerberinnen nicht ungleich behandelt, so die Richter.

Stellenausschreibung, die sich ausschließlich an Personen weiblichen Geschlechts richtet, muss keine Ungleichbehandlung bedeuten!Die gesetzliche Beschränkung (NHG) auf das weibliche Geschlecht führt grundsätzlich nicht automatisch zur Rechtfertigung einer darauf begründeten Maßnahme. Eine unterschiedliche Behandlung ist im Gegenteil auch nur dann zulässig, wenn das Geschlecht eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt. Dies trifft im vorliegenden Fall jedoch aufgrund des Stellen- und Aufgabenzuschnitts der Hochschule eindeutig und unverkennbar zu. Das weibliche Geschlecht ist für einen Teil der Aufgaben der Gleichstellungsbeauftragten unverzichtbar.

Die Gleichstellungsbeauftragte berät beispielsweise Hochschulangehörige in Fragen der Gleichstellung und unterstützt insbesondere als Ansprechpartnerin bei sexuellen Belästigungen, von denen hauptsächlich Frauen betroffen sind. Hier sind Erwartungen Dritter und die Notwendigkeit einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit zur Authentizität der Aufgabenwahrnehmung legitim und nicht diskriminierend. Eine Revision gegen das Urteil wurde denn auch nicht zugelassen.

Ähnliches gilt im Übrigen, wenn ein Vertrauensverhältnis zu einer bestimmten Gruppe erforderlich ist, wie bei der Beratung und Betreuung von Diskriminierungsopfern. Daher konnte die Hochschule den Bewerberkreis für das Amt der Gleichstellungsbeauftragten auch problemlos auf Frauen beschränken und eine Ungleichbehandlung verneinen.

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 24.2.2023; AZ – 16 Sa 671/22 –

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Urteil: Arbeitgeber darf Betriebsrat nicht abmahnen

In Deutschland haben Gewerkschaften und ihre Vertreter nach wie vor eine starke Rolle in der Arbeitnehmer-Vertretung – anders als in vielen anderen Ländern. In den meisten Betrieben steht dafür zunächst der Betriebsrat und dessen Vertreter. Sie haben durch ihre besondere Tätigkeit einen hohen Schutz, was auch immer wieder Unternehmern ein Dorn im Auge ist. Doch Gerichte neigen hierzulande eher dazu, die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, wie auch ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgericht Hessen vom November 2021 zeigt.

Der Arbeitgeber hatte vom Betriebsrat unter Androhung arbeitsrechtlicher Schritte verlangt, es zu unterlassen, ein (vom Arbeitgeber erstelltes) Formular mit der Funktion einer „Jahresurlaubsplanung“ zu verändern oder anzupassen. Obwohl Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit ganz klar nicht gestört oder behindert und auch nicht benachteiligt oder begünstigt werden dürfen, mahnte der Arbeitgeber den Betriebsrat in einer E-Mail ab.

Der Betriebsrat ist gesetzlich besonders geschützt!Der Arbeitgeber begründete das Ignorieren des Betriebsverfassungsgesetzes damit, dass interne Firmenunterlagen zu verändern und diese ungeprüft und ungefragt weiterzugeben, keine typische Tätigkeit sei und auch als Interna zu unterbinden. Das Schreiben endete denn auch mit dem Verweis, arbeitsrechtliche Schritte in Erwägung zu ziehen, sollte sich so ein Fall wiederholen. Was typischerweise eine Abmahnung wäre.

Eine „betriebsverfassungsrechtliche Abmahnung wegen einer betriebsverfassungsrechtlichen Amtspflichtverletzung ist generell unzulässig“, lautete jedoch die etwas in sich gedreht wirkenden Begründung der hessischen Richter. Beides, Abmahnung und Amtspflichtverletzung liegen quasi auf der gleichen Ebene, daher auch dieser Wortlaut der Erklärung.

Abmahnung für ein Verhalten, das der Mitarbeiter aufgrund seiner Stellung im Betriebsrat tätigt, kommt daher nicht in Betracht. Jedoch bleibt davon natürlich die Möglichkeit der Abmahnung in seiner Stellung als normaler Arbeitnehmer (die er gleichzeitig innehat) vollkommen unberührt – so zum Beispiel, wenn er Pflichten aus seinem geltenden Arbeitsvertrag verletzt. Der Abmahnung kann er dann auch nicht die Mitgliedschaft im Betriebsrat entgegenhalten.

Die Möglichkeit, gegen eine Abmahnung durch den Arbeitgeber vorzugehen, steht übrigens nur dem abgemahnten Betriebsratsmitglied selbst offen. Ein entsprechendes Recht des Betriebsrats als Kollektiv existiert hingegen nicht.

Urteil des hessischen Landesarbeitsgerichts vom 29.11.2021; AZ – 16 TaBV 52/21–

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Kein Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn für Pflichtpraktikum jeglicher Art

Praktikanten, die ein Pflichtpraktikum als Zulassungsvoraussetzung für die Aufnahme eines Studiums absolvieren, haben keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Das hat das Bundesarbeitsgericht im Januar 2022 entschieden.

Im Urteil stellten die Richter klar, der Ausschluss von Ansprüchen auf den gesetzlichen Mindestlohn (nach dem in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers) gelte nicht nur obligatorische Praktika während des Studiums. Auch solche, die in Studienordnungen als Voraussetzung zur Aufnahme eines bestimmten Studiums verpflichtend vorgeschrieben sind, sind darin eingeschlossen.

Die Klägerin im konkreten Fall beabsichtigte sich an einer privaten, staatlich anerkannten Universität um einen Studienplatz im Fach Humanmedizin zu bewerben. Nach der Studienordnung ist die Ableistung eines sechsmonatigen Krankenpflegedienstes Zugangsvoraussetzung für den Studiengang. Vor diesem Hintergrund absolvierte die Klägerin bei der Beklagten, die ein Krankenhaus betreibt, ein Praktikum auf einer Krankenpflegestation. Ausschluss von Ansprüchen auf den gesetzlichen MindestlohnDie Zahlung einer Vergütung wurde nicht vereinbart. Mit ihrer Klage hatte die Klägerin unter Berufung auf das Mindestlohngesetz Vergütung in Höhe von mehr als 10.000 Euro brutto verlangt. Sie hatte geltend gemacht, sie habe im Rahmen einer Fünftagewoche täglich 7,45 Stunden Arbeit geleistet. Ein Vorpraktikum vor Aufnahme eines Studiums sei kein „übliches“ Pflichtpraktikum, daher greife die gesetzliche Ausnahme von der Vergütungspflicht nicht. Das Landesarbeitsgericht hat in der ersten Instanz die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision hatte ebenfalls keinen Erfolg.

Das Berufungsgericht in Erfurt hat dann im Ergebnis letztlich festgelegt, dass die Beklagte nicht zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns verpflichtet sei. Dem stehe nicht entgegen, dass die Studienordnung von einer privaten Universität erlassen wurde, denn die betroffene Universität sei staatlich anerkannt. So ist die von der Hochschule erlassene Zugangsvoraussetzung im Ergebnis einer öffentlich-rechtlichen Regelung gleichgestellt. Damit sei auch gewährleistet, dass durch das Praktikums-Erfordernis als Teil der Studienordnung der grundsätzlich bestehende Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für Praktikanten nicht sachwidrig umgangen wurde.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.01.2022; AZ – 5 AZR 217/21 –

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Keine Abmahnung nötig: Ordentliche Kündigung wegen erheblicher Verspätungen

Zu spät zur Arbeit zu kommen, das passiert wohl jedem Arbeitnehmer einmal – die Umstände sind so unterschiedlich wie die betroffenen Personen. Und viele Arbeitgeber sehen das – besonders wegen vereinbarten Gleitzeit-Regelung – nicht als allzu problematisch an. Kommt eine Arbeitnehmerin an vier aufeinander folgenden Arbeitstagen teilweise erheblich zur spät zur Arbeit, so geht das sicher zu weit – und rechtfertigt tatsächlich die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Fehlt (wie im vorliegend Fall) der Arbeitnehmerin zudem ein wirkliches Unrechtsbewusstsein, so bedarf es auch keiner vorherigen Abmahnung. Dies hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein Ende August 2021 entschieden.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ende 2019 wurde eine bei einem Sozialgericht in Schleswig-Holstein beschäftigte Angestellte ordentlich gekündigt, weil sie an vier aufeinanderfolgenden Arbeitstagen teilweise erheblich zu spät zur Arbeit kam.

Ordentliche Kündigung wegen erheblicher Verspätungen

Die Angestellte war in der Poststelle eingesetzt und an ihren Arbeitstagen dort die einzige Mitarbeiterin. Sie begründete die Verspätungen unter anderem mit Schlafmangel. Sie empfand dies als hinreichenden Grund für ihre Verspätungen und erhob Klage gegen die Kündigung. Das Arbeitsgericht Flensburg wies die Klage ab. Das wollte sie nicht hinnehmen und ging in die Berufung.

Das zuständige Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein bestätigte jedoch die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die wiederholten Verspätungen der Klägerin bei der Arbeitsaufnahme rechtfertige in jedem Fall eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Sie habe klar ihre Verpflichtung zum pünktlichen Arbeitsantritt verletzt. Soweit die Klägerin einen Schlafmangel anführte, sei dies ihren privaten Lebensumständen zuzurechnen und könne die Pflichtverletzung nicht beseitigen.

Auch eine ins Spiel gebrachte  Abmahnung habe es nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht bedurft. Denn die Klägerin sei ersichtlich nicht ernsthaft gewillt gewesen, sich ihrem Arbeitsvertrag gemäß zu verhalten. Dafür sprächen die massiven Verspätungen der Klägerin an vier aufeinanderfolgenden Arbeitstagen. Denn obwohl sie bereits nach der ersten Verspätung in einem Gespräch auf die Pflichtverletzung hingewiesen wurde, habe sie keine Maßnahmen ergriffen, um ein erneutes Verschlafen zu verhindern. Zudem habe sie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, es sei nicht so schlimm und führe nicht zu betrieblichen Störungen, wenn die Post einmal liegen bleibe. Dies zeige erkennbar fehlendes Unrechtsbewusstsein.

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.8.2021; AZ – 1 Sa 70 öD/21 –

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Auch ohne Abmahnung: Kündigung wegen Diebstahl von Desinfektionsmittel rechtmäßig

Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat mit einem Urteil vom Januar 2021 die fristlose Kündigung eines Mitarbeiters, der einen Liter Desinfektionsmittel entwendet hatte, auch ohne vorherige Abmahnung als rechtmäßig angesehen. Bei der stichprobenartigen Ausfahrtkontrolle fand der Werkschutz im Kofferraum des Klägers eine nicht angebrochene Plastikflasche mit einem Liter Desinfektionsmittel und eine Handtuchrolle. Der Wert des Desinfektionsmittels betrug zum damaligen Zeitpunkt etwa 40 Euro. Hintergrund: Es kam in dem beklagten Unternehmen immer wieder vor, dass Desinfektionsmittel aus den Waschräumen entwendet wurde.

Im konkreten Fall stimmte am Ende sogar der Personalausschuss der fristlosen Kündigung (nach Befragung von Zeugen) zu. Der Kläger stellte dem entgegen, er habe sich während der Arbeit jede Stunde zu seinem Fahrzeug begeben, um die Hände zu desinfizieren und abzutrocknen. Er habe das Mittel für sich und eventuell seine Kollegen verwenden wollen, zumal dieses in den Waschräumen nicht immer verfügbar gewesen sei. Bei der Ausfahrt habe er an die Sachen im Kofferraum nicht mehr gedacht. Er müsse kein Desinfektionsmittel stehlen, weil seine Frau in der Pflege arbeite und die Familie über sie ausreichend versorgt sei.

Das Gericht hat mit Urteil vom Januar 2021 die fristlose Kündigung eines Mitarbeiters auch ohne vorherige Abmahnung als rechtmäßig angesehen.Die Arbeitgeberin führte an, dass der Kläger dem Werkschutz gesagt habe, dass er das Desinfektionsmittelhabe mitnehmen dürfe, um sich unterwegs die Hände zu desinfizieren. Sie habe jedoch mit Aushängen im Sanitärbereich darauf hingewiesen, dass das Mitnehmen von Desinfektionsmittel eine fristlose Kündigung und Anzeige zur Folge habe. Eine zusätzliche Abmahnung war schon an dieser Stelle seitens des Arbeitgeber ausgenommen.

Nach Auffassung des Düsseldorfer Landesarbeitsgerichts liegt ganz deutlich ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung vor. Die Einlassungen des Klägers seien nicht glaubhaft. Das Landesarbeitsgericht geht davon aus, dass der Kläger das Desinfektionsmittel genommen habe, um es selbst zu verbrauchen. Wenn er es während der Schicht habe benutzen wollen, hätte es nahe gelegen, das Desinfektionsmittel auf einen Materialwagen am Arbeitsplatz zu stellen. Es sei zudem nicht nachvollziehbar, dass er das Desinfektionsmittel auch für die Kollegen verwenden wollte, denn weder hatte er ihnen gesagt, wo er das Desinfektionsmittel aufbewahrt noch ihnen den Autoschlüssel gegeben, damit sie es hätten benutzen können. Und last but not least sei die aufgefundene Flasche nicht angebrochen gewesen.

Tatsächlich ist im vorliegenden Fall eine sonst übliche vorherige Abmahnung nicht erforderlich, so die Düsseldorfer Richter. Auch angesichts der langen Beschäftigungszeit des Arbeitnehmers. Der Kläger habe in einer Zeit der Pandemie, als Desinfektionsmittel Mangelware war und in Kenntnis davon, dass auch die Beklagte mit Versorgungsengpässen zu kämpfen hatte, eine nicht geringe Menge Desinfektionsmittel entwendet. Damit habe er darüber hinaus in Kauf genommen, dass seine Kollegen leer ausgingen.

Angesichts dieser Umstände habe dem Kläger klar sein müssen, dass er mit seiner Handlungsweise den Bestand seines Arbeitsverhältnisses gefährdete.

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 14.1.2021; AZ – 5 Sa 483/20 –

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Sind Überstunden pauschal mit Lohn und Gehalt abgegolten?

Oft enthalten Arbeitsverträge Klauseln, nach denen anfallende Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind. Solche Klauseln sind nur wirksam, wenn der Arbeitnehmer aus der Klausel zweifelsfrei ersehen kann, in welchem Umfang diese zu leisten sind. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn die Klausel besagt, dass „erforderliche Überstunden“ oder schlicht und einfach jedwede Überstunden mit dem normalen Gehalt abgegolten sein sollen.

Zulässig ist hingegen eine vertragliche Abgeltung zeitlich konkret eingegrenzter Überstunden (beispielsweise mit „10 Stunden pro Monat“ benannt). Auch eine Abgeltung einer größeren Zahl von Überstunden in den Grenzen des Arbeitszeitgesetzes ist möglich. Das heißt diese können umgangssprachlich „abgefeiert“ werden, es findet also ein echter Ausgleich statt. In dem Fall gilt es allerdings zu beachten, dass Überstunden bis zur Höchstarbeitsgrenze des Arbeitszeitgesetzes von 48 Stunden wöchentlich bereits mit dem normalen Entgelt abgegolten sind.

Überstunden und deren wie immer gestalteter Ausglieich müssen klar geregelt sein!Bei Diensten höherer Art (zum Beispiel bei angestellten Rechtsanwälten in der Rechtsabteilungen von Konzernen) oder bei Arbeitnehmern mit Führungsaufgaben, die nicht unter das Arbeitszeitgesetz fallen (zum Beispiel Chefärzte und leitende Angestellte) muss der Entgeltanspruch für Überstunden nicht zwangsweise gültig sein. Eine weitere wichtige Grenze hat dazu das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom Februar 2012 gezogen: Bei Zahlung einer deutlich hervorgehobenen Vergütung – gekennzeichnet etwa durch die Überschreitung der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung – besteht keine objektive Vergütungserwartung für Überstunden. Diese sind dann in der Tat mit dem herausgehobenen Gehalt bereits abgegolten.

Nach statistischen Erhebungen werden in Deutschland jährlich tatsächlich mehrere Milliarden Überstunden erbracht. Deren Ableistung dürfte also in der Praxis der Regelfall sein. Sofern Arbeitnehmer hinreichend genaue Aufzeichnungen über die von ihnen geleistete Überstunden geführt haben, können bei längeren Zeiträumen durchaus beträchtliche Zahlungsansprüche anwachsen. Die gesetzliche Verjährungsfrist beträgt dabei übrigens drei Jahre. Danach können also grundsätzlich auch rückwirkend keine Vergütungsansprüche mehr geltend gemacht werden. Bevor man als Arbeitnehmer aber allzu optimistisch hohe zusätzliche Einkünfte aus einem Überstundenguthaben einkalkuliert, lohnt sich der Blick in den Arbeitsvertrag.

Häufig sind nämlich im Arbeitsvertrag Ausschlussfristen enthalten (also beispielsweise eine Bestimmung, dass alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Frist von drei Monaten schriftlich geltend zu machen sind – und ansonsten schlicht verfallen). Eine wichtige Besonderheit hinsichtlich der  Ausschlussfristen verdient jedoch Erwähnung: Führt nämlich der Arbeitgeber ein Arbeitszeitkonto und nimmt er in dieses die Überstunden von Arbeitnehmern auf, stellt dies eine klare Anerkennung dar. Die Folge ist, dass sich ein Arbeitgeber damit nicht mehr auf eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist berufen kann.

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Mikrojobs: Ein Crowdworker ist im Einzelfall durchaus als Arbeitnehmer zu sehen

Für ein klares Arbeitsverhältnis spricht es, wenn ein Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass ein Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann.

Der spätere Kläger war eine Zeit lang regelmäßig für das Online-Unternehmen im Einsatz war und bekam dann die Information, dass ihm keine weiteren Aufträge mehr angeboten würden. Mit seiner daraufhin einlegten Klage hatte er zunächst die Feststellung beantragt, dass inzwischen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bestände. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte das Unternehmen vorsorglich ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis. Daraufhin hatte der Mann seine Klage – mit der er außerdem Vergütungsansprüche verfolgte – um einen Kündigungsschutzantrag erweitert.

Das Bundesarbeitsgereicht hat Anfang Dezember 2020 entschieden, dass die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform (er wird damit zum sogenannten „Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber (“Crowdsourcer”) getroffenen Rahmenvereinbarung ergeben kann, dass die rechtliche Beziehung zwischen beiden als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Die zuvor damit befassten Gerichte hatten noch im Sinne der Online-Plattform entschieden.

Mikrojobs können auch reguläre Arbeitsverhältnisse darstellen!Wie siehen diese Mikrojobs aus? Über einen persönlich eingerichteten Account kann jeder Nutzer der Online-Plattform auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Aufträge annehmen – ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Übernehmen Crowdworker einen Auftrag, müssen diese regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben der Plattform, des „Crowdsourcers“, erledigen. Für erledigte Aufträge werden auf dem Nutzerkonto Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Das System erhöht mit der Anzahl erledigter Aufträge das Level und gestattet die gleichzeitige Annahme mehrerer Aufträge. Der Kläger selbst führte so für die Beklagte 2.978 Aufträge in einem Zeitraum von elf Monaten aus.

Das BAG sah die Argumente klar im Sinne des Klägers: Dieser leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der beklagten Plattform verpflichtet. Die Organisationsstruktur des Crowdsourcing-Unternehmens war aber klar darauf ausgerichtet, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich, Schritt für Schritt, vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen.

Einschränkend hat das Gericht allerdings auch festgestellt, dass der Kläger nicht ohne weiteres eine Gehaltszahlung in Höhe einer bisher als vermeintlich freie Mitarbeiter bezogene Honorare verlangen kann. Stellt sich ein solches freies Dienstverhältnis im Nachhinein als Arbeitsverhältnis dar, kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass die für den freien Mitarbeiter vereinbarte Vergütung der Höhe nach auch für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer verabredet sei.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1.12.2020; AZ – 9 AZR 102/70 –

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Kann Urlaub einfach automatisch verfallen oder muss der Arbeitgeber aktiv werden?

Urlaub verfällt nicht mehr automatisch. Urlaub verfällt tatsächlich nur dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor auf drohenden Urlaubsverfall hingewiesen hat. Die Hinweispflicht des Arbeitgebers umfasst dabei auch Urlaub aus vergangenen Jahren. Hintergrund ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom November 2018 nachdem ein Urlaubsverfall in der Regel nur noch dann eintreten kann, wenn der Arbeitgeber den Mitarbeiter zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub zu nehmen und daraufhin gewiesen hat, das dieser anderenfalls oder mit Ablauf eines Übertragungszeitraums erlischt.

Wie ist er aber, wenn der Arbeitnehmer über eine lange Zeit ohne Unterbrechung arbeitsunfähig erkrankt ist und auch gar keinen Ur­laub nehmen kann? Dann besteht eine solche Hinweispflicht nicht, so das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm in einem Urteil vom Juli 2019.

Urlaubansprüche müssen vom Arbeitgeber nur benannt werden, wenn Arbeitnehmer nicht langfristig erkrankt sind.Im vorliegenden Fall war eine Arbeitnehmerin gut 18 Monate durchgehend erkrankt und verlangte nach ihrer Genesung 14 Urlaubstage für dass erste Jahr ihrer Krankheit. Nun wären diese nach der Rechtsprechung 15 Monate nach Ablauf des betreffenden Urlaubsjahres verfallen, daher berief sie sich darauf, dass der Arbeitgeber sie (was grundsätzlich unstreitig war) nach dem ersten Krankheitsjahr nicht auf den bevorstehenden Verfall des Urlaubsanspruchs hingewiesen hatte.

Das LAG wies die Klage jedoch ab, wie auch schon das Arbeitsgericht Paderborn zuvor und entschied, dass in einer solchen Situation eine Belehrungspflicht des Arbeitgebers über Urlaubsansprüche bei Nichtinanspruchnahme bis zum 31. Dezember des Kalenderjahres oder bis zum 31. März des Folgejahres erlöscht. Eine solche Pflicht bestehe bei langfristig erkrankten Arbeitnehmern nicht – erst nach der Wiedergenesung setze die Verpflichtung erneut ein.

Selbst wenn der Arbeitgeber gegen Ende des Jahres der Erkrankung noch nicht wusste, wie lange die Arbeitsunfähigkeit andauern würde, bestehe trotzdem solange keine Belehrungspflicht – mit einer sehr nachvollziehbaren Begründung: Eine Beantragung oder Erteilung von Urlaubes war objektiv gar nicht möglich.

Mittlerweile hat sich auch das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz dieser Meinung angeschlossen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Januar 2020; AZ – 7 Sa 284/19 –). Eine Revision beim Bundesarbeitsgericht steht noch aus, eine Entscheidung ist noch 2020 zu erwarten.

Urteil des Landesarbeitsgericht Hamm vom 24.7.2019; AZ – 5 Sa 676/19 –

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Bildschirmbrille muss vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden

Eine Bildschirmbrille ist eine spezielle Sehhilfe für Arbeiten am Bildschirm. Dabei geht es um den typischen Abstand zum Monitor, so grob eine Unterarmlänge. Sie ist notwendig, wenn die Arbeitsaufgabe mit „normalen“ Sehhilfen nicht zufriedenstellend erfüllt werden kann. Häufig tritt das ab dem 45. Lebensjahr auf und hängt meist mit der schwächelnden Augenmuskulatur zusammen.

Die Rechtsgrundlage ist ziemlich eindeutig: Ein Arbeitgeber muss Arbeitnehmern, die am Bildschirm arbeiten, vor Aufnahme ihrer Tätigkeit, während der Tätigkeit und allgemein bei Sehproblemen eine Angebotsvorsorge anbieten.

Eine solche Angebotsvorsorge beinhaltet eine angemessene Untersuchung der Augen und des Sehvermögens – also ein ärztliches Gespräch mit Ermittlung der Vorgeschichte und aktueller Beschwerden, ein Sehtest sowie eine ärztliche Beurteilung und persönliche Beratung. Stellt sich hier heraus, dass Mitarbeiter eine spezielle Bildschirmbrille benötigen, muss diese vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden. Dass spezielle Sehhilfen vom Arbeitgeber gestellt (und bezahlt) werden müssen, wird an verschiedenen Stellen durch entsprechende Urteile untermauert.

Eine Bildschirmbrille muss vom Arbeitgeber gestellt werdenWann ist eigentlich eine Bildschirmbrille notwendig? Dieser Fall kann eintreten, wenn die Akkommodationsfähigkeit soweit eingeschränkt ist, dass der Bildschirm mit der normalen Sehhilfe nicht mehr ohne Probleme scharf gesehen werden kann. Akkommodation ist die dynamische Anpassung (durch die Augenmuskulatur) der Brechkraft des Auges. Eine der Ursachen für Sehprobleme alterssichtiger Bildschirmnutzer kann zudem in dem integrierten Nahteil einer Zweistärkenbrille liegen: Um Sehobjekte im Nahbereich scharf zu sehen, müssen unter Umständen gezielte Kopfbewegungen ausgeführt werden, wo Nichtalterssichtige einfach nur Augen(muskel)kontraktionen benötigen.

Nicht immer ist ein Betriebsarzt benannt (typischerweise bei kleinen Unternehmen), der die Entscheidung über die Notwendigkeit einer solchen Brille trifft. Da muss dann ein externer Augenarzt konsultiert werden. Da sich die Kassen seit ungefähr 1997 weigern, die Kosten für die Verordnung einer Bildschirmbrille zu übernehmen, ist zunächst zu klären, wieweit der Arbeitgeber für diese Kosten aufkommt. Solange diese Haltung der Krankenkassen besteht, gilt es sicherzustellen, dass Mitarbeitern keine Kosten für besondere Bildschirmbrillen entstehen.

Der Arbeitgeber hat also dafür zu sorgen, dass den Mitarbeitern auf seine Kosten innerhalb eines festzulegenden Kostenrahmens eine geeignete Sehhilfe zur Verfügung gestellt wird. Die Anpassung und Anfertigung der Brille macht ganz normal ein Augenoptiker-Fachgeschäft. Da hier in Bezug auf Gestaltung und Kosten einer Brille ohne entsprechende Festlegungen ein erheblicher Spielraum besteht, empfiehlt es sich, vorab Absprachen über den Kostenrahmen zu treffen. „Luxusausstattungen“ trägt der Mitarbeiter – dabei geht man allgemein von allen Ausstattungen über 150 Euro aus.

Für den öffentlichen Dienst hat das Bundesverwaltungsgericht übrigens schon 2003 bestimmt, dass die speziellen Sehhilfen nicht wie beihilfefähige Leistungen zu sehen sind, sondern im vollen Umfang vom Dienstherrn zu bezahlen sind.

Foto: NicoElNino